27.09.2022 -
Krieg in der Ukraine. Auf der Startseite von freenet.de wird mir täglich ein neues Bild einer zerbombten Stadt angezeigt. Eines Tages sogar auf der Straße liegende Leichen. Ich traue mich nicht, darauf zu klicken und öffne schnell mein Postfach.
Viele in Deutschland und sicher auch in allen anderen europäischen Ländern fühlen sich gerade in die vom Krieg betroffenen Ukrainer ein.
Aber die Wenigsten machen sich darüber Gedanken, wie es ist, wenn man auf der Flucht aus einem Kriegsgebiet ist, wenn man Gehörlos ist.
Am 18. März kam eine Nachricht von der evangelischen Pfarrerin der EGG Nürnberg (evangelisch-lutherische, gebärdensprachliche Kirchengemeinde) via Whatsapp bei allen Gebärdensprachdolmetschern in Nürnberg und Umgebung und auch bei mir an: Wer hat heute spontan Zeit, nach Fürth in das Hotel Zentral zu kommen?
Dort sollen gehörlose Geflüchtete angekommen sein. Auch eine gehörlose Frau, die in der Ukraine aufgewachsen ist und sowohl die deutsche als auch die ukrainische Gebärdensprache beherrscht, soll anwesend sein - zur Unterstützung der Kommunikation.
Ich habe auch Zeit.
Ich fahre also mit dem Fahrrad nach Fürth. Das Hotel befindet sich gleich an der großen Kreuzung beim Arbeitsamt. Eine sehr städtische und graue Gegend, denke ich. Aber das Hotel ist sowohl von außen als auch von innen ein liebevoll bunt bemalter Farbklecks in der Gegend.
Vor dem Hotel treffe ich mich mit der gehörlosen Frau, die die ukrainischen Gebärden beherrscht. Wir kennen uns sogar! Die Welt ist klein. Wir gehen gemeinsam ins Hotel.
Wir fragen uns, wo dort eine verantwortliche Person zu finden ist. Eine Frau sagt uns, wir sollen uns an den Hotelbesitzer wenden. Der schickt uns den Flur entlang zu einem Zimmer, in dem sich die Geflüchteten momentan aufhalten.
Wir gehen also aus dem Eingangsbereich, der einigen als Aufenthaltsraum zu dienen scheint, in den dunklen Flur. Der Hotelbesitzer macht uns auf, denn die Tür lässt sich von außen nur mit einem Code öffnen und Klopfen würden die Gehörlosen ja nicht hören.
Es sind drei spielende Kinder, drei Männer und zwei Frauen im Raum. Die Frauen sehen sich so ähnlich, dass schnell klar wird, dass sie Schwestern sein müssen. Der Raum ist lichtdurchflutet. Durch die Fensterfront zur Straße hin und an den Wänden stehen Stockbetten.
Die Gehörlosen freuen sich, dass sie mit uns in ihrer Sprache kommunizieren können. Sie fangen sofort alle an, mit der gehörlosen Übersetzerin zu gebärden.
Wir fragen sie, wobei sie Hilfe gebrauchen können. Sie beschreiben, dass sie von einem gelben Zettel gehört haben, den es braucht, um eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Sie hätten aber keinen gelben Zettel erhalten, dolmetscht die Übersetzerin für mich ins Deutsche.
Nun soll ich mal im Empfangsbereich des Hotels nachfragen, was es mit dem gelben Zettel auf sich hat. Ich, als einzige Hörende, gehe also wieder durch den dunklen Flur und suche jemanden, der eine Ahnung hat. Der Hotelbesitzer weiß nicht, was für einen gelben Zettel ich meine. Er schickt mich aber weiter zum Hausmeister, der sich gut auszukennen scheint. Den erwische ich allerdings erst nicht. Dafür eine andere Frau, die mir ganz aufgeregt etwas auf Russisch antwortet.
Da ist der Hausmeister wieder. Er sagt, er hat eigentlich keine Zeit, erklärt aber trotzdem, dass die gelben Formulare sogenannte Wohnungsgeber-Bestätigungen sind.
Das habe ich dann versucht, den Gehörlosen zu erklären: Es macht keinen Sinn, ohne festen Wohnsitz eine Arbeitserlaubnis zu beantragen. Solange sie also hier im Hotel leben, können die Geflüchteten nicht arbeiten.
Die Pfarrerin der EGG Nürnberg ruft an. Sie sagt, sie sitzt mit Corona daheim und ärgert sich, dass sie nicht vor Ort helfen kann. Sie fragt, ob wir schon vor Ort sind und erzählt außerdem, dass im Hotel auch taubblinde Menschen angekommen sein sollen. (Als ich später im Hotel nachfrage, weiß niemand etwas von taubblinden Geflüchteten.)
Ich habe zwei mögliche Unterkünfte organisiert, sagt die Pfarrerin und fragt, ob wir das den Gehörlosen mitteilen können. Ich halte mein Handy der gehörlosen Frau hin. Denn die Pfarrerin kann selbst gebärden.
Die gehörlose Übersetzerin gibt alles direkt in ukrainischer Gebärdensprache weiter. Ich verstehe nur Satzfetzen, weil ich die gebärdende Pfarrerin nicht sehe und nur die ukrainischen Gebärden. Dann übersetzt die gehörlose Übersetzerin mir auf Deutsch, was die Pfarrerin gerade erzählt hat: Die eine Wohnmöglichkeit wäre in der Nürnberger Innenstadt, direkt am Stadtpark. Im Erdgeschoss leben Mönche. Im ersten Stock können die beiden jungen Familien unterkommen und jeweils eigene Zimmer bekommen. Allerdings müssten sie essen, was die Mönche kochen und sie sollten auch bereit sein, in der Küche beim Gemüse schneiden mitzuhelfen.
Eine der gehörlosen Frau wirkt nicht begeistert und fragt: Wir können nicht selbst das Essen kochen, was wir wollen? Ihr Ehemann gebärdet: Und was, wenn die Mönche gar kein Fleisch essen? Jetzt ist doch gerade Fastenzeit! Zu seinen Füßen spielt ihr Kind mit einem der vielen Spielzeuge, die als Spenden im Hotel abgegeben wurden.
Die zweite Option ist eine Wohnung mit eigener Küche im Nürnberger Umland. Ich zeige den Gehörlosen auf Google Maps, wo der kleine Ort im Umland genau liegt. Und wie lange es mit dem Zug von dort nach Nürnberg dauert. Ich verstehe, wie einer der Männer das Umland in Gebärden beschreibt. Viele kleine Dörfer. Viel Natur dazwischen. Das gefällt ihnen. Sie wollen nicht in der Stadt leben. Das verstehe ich, ihre Aussicht aus dem Fenster auf die vielbefahrene Straße ist wirklich sehr grau und trist. Und sie haben den Stadtpark noch nicht gesehen und denken die Stadt sieht überall so grau aus.
Also ins Umland wollen sie. Sie haben sich entschieden. Am nächsten Morgen wird eine gehörlose Mitarbeiterin der Sozialberatungsstelle der EGG kommen und alles weitere organisieren. Sie beherrscht auch die ukrainische Gebärdensprache, da ihre Eltern aus der Ukraine stammen. Ich halte den Gehörlosen mein Handydisplay entgegen und zeige ihnen das Foto der gehörlosen Frau, die sie morgen besuchen kommt. Ich weiß sogar noch ihren Gebärdennamen: Welliges Haar.
Nun wissen sie, wie es weitergeht. Die gehörlose Übersetzerin und ich haben unsere Aufgabe erfüllt und reden noch ein bisschen, bevor wir uns verabschieden.
Zum Schluss frage ich noch, ob ich nach einer Gehörlosenschule in der Nähe des Ortes suchen soll, wo sie hinziehen. Eine der Frauen schaut ganz irritiert. Die Übersetzerin klärt mich auf. Die deutsche Gebärde für „suchen“ ist die ukrainische Gebärde für „stinken“. Ups!
Ich erfahre später, dass die ukrainischen Familien nach anfänglichen Schwierigkeiten eine Wohnung gefunden haben.
« Wieder einklappen