MIT FREMDEN AUGEN – WIE PFLEGEKRÄFTE LERNEN, ANDERS ZU SEHEN
Miterlebt: Sehbeeinträchtigungen – der unterschätzte Demenzbeschleuniger: Ein Präventionsprogramm zeigt, wie einfach Gegenmaßnahmen sein können. Von Roland Schmitt-Raiser
Mit anderen Augen sehen: Augenoptikerin Barbara Beitelstein demonstriert Pflegekräften, was Menschen mit Sehbeeinträchtigungen oder altersbedingten Augenerkrankungen tatsächlich sehen und welche Hilfsmittel zu einer verbesserten Wahrnehmung führen können.

Mit anderen Augen sehen: Augenoptikerin Barbara Beitelstein demonstriert Pflegekräften, was Menschen mit Sehbeeinträchtigungen oder altersbedingten Augenerkrankungen tatsächlich sehen und welche Hilfsmittel zu einer verbesserten Wahrnehmung führen können.
MIT FREMDEN AUGEN – WIE PFLEGEKRÄFTE LERNEN, ANDERS ZU SEHEN
Miterlebt: Sehbeeinträchtigungen – der unterschätzte Demenzbeschleuniger: Ein Präventionsprogramm zeigt, wie einfach Gegenmaßnahmen sein können. Von Roland Schmitt-Raiser
Manchmal sind es die kleinen Dinge, die ein beinahe schon verloren geglaubtes Leben wieder lebenswert machen. Wie bei der älteren Dame in einem Seniorenzentrum in Höhenkirchen-Siegertsbrunn, die sich mit einer beginnenden Demenz komplett zurückgezogen hatte. „Wir wussten, dass sie früher viel gemalt hatte“, erzählt Daniela Donaubauer. Sie leitet das Team Soziale Betreuung in der Pflegeeinrichtung südlich von München. „Als ich den Fall in der Schulung für Sehbeauftragte in der Johann Wilhelm Klein-Akademie der Blindeninstitutsstiftung schilderte, wurden wir ermutigt, es mal mit einer Lesebrille zu versuchen, und plötzlich, da kriege ich heute noch eine Gänsehaut“, erzählt sie weiter, „malte sie wieder.“
Donaubauer ist Sehbeauftragte im Seniorenzentrum „Wohnen am Schlossanger“ und eine von 9.000 Pflegekräften, die im Rahmen des Präventionsprogramms der Blindeninstitutsstiftung „Gutes Sehen in Pflegeeinrichtungen“ in den vergangenen acht Jahren darauf geschult wurden, Sehbeeinträchtigungen zu erkennen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um Seniorinnen und Senioren die aktive Teilhabe am Leben weiter zu ermöglichen.
Geschulte Augen sehen besser
„Wir geben Hilfe zur Selbsthilfe“, erläutert Klara Wolf, Sozialpädagogin und neue Leiterin des Präventionsprogramms. Im April dieses Jahres löste sie die bisherige Leiterin Sabine Kampmann ab, die 2024 für ihr 30-jähriges Engagement für das Thema „Sehen im Alter“ geehrt wurde. „Wir schulen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Pflegeeinrichtungen, damit sie in der Lage sind, Sehbeeinträchtigungen im Pflegealltag zu erkennen und festzustellen, wo mit wenigen Anpassungen schon viel geholfen werden kann“, so Wolf. Die Schulungen werden sowohl vor Ort als auch digital angeboten, sie sind für die Pflegeeinrichtung freiwillig und kostenlos. Anmelden können sich Tages- und Vollzeitpflegeeinrichtungen aus Bayern.
„Die Seminare sind praxisnah und so gestaltet, dass die Teilnehmenden viele Informationen direkt umsetzen können“, betont Wolf. Dabei komme es nicht darauf an, die Maßnahmen möglichst umfänglich zu erfüllen. Oft seien es schon die kleinen Schritte, die vielen Bewohnerinnen und Bewohnern weiterhelfen würden.
Wie können Pflegekräfte selbst einen Sehtest durchführen? Christiane Heilein zeigt, was zu tun ist.

Wie können Pflegekräfte selbst einen Sehtest durchführen? Christiane Heilein zeigt, was zu tun ist.
Positiver Nebeneffekt: „Wenn Seniorinnen und Senioren mehr Alltagsaufgaben selbständig bewältigen, gewinnen Pflegekräfte wertvolle Zeit für andere wichtige Tätigkeiten.“
Kleine Hilfen, große Wirkung
Da kann zum Beispiel ein akustischer Füllstandsanzeiger, der einen Warnton abgibt, sobald das Wasserglas ausreichend gefüllt ist, schon weiterhelfen. „Wenn man sich das Getränk wieder selbst einschenken kann, ohne etwas zu verschütten, entlastet das nicht nur die Pflegekraft, sondern erhöht auch das Selbstwertgefühl der Menschen und ermutigt sie zur Mitarbeit“, betont Wolf, die in ihren Seminaren jede Menge solcher Alltagshelfer mitbringt.
Seit 2016 führt die Blindeninstitutsstiftung das Präventionsprogramm zunächst vom Standort Würzburg aus. 2018 kamen die Tagespflege als neues Aufgabenfeld und 2019 der Standort Regensburg dazu.
Das Programm basiert auf einer Studie, die die Stiftung zusammen mit der Augenklinik des Universitätsklinikums Würzburg zwischen 2012 und 2015 durchgeführt hat. Im Rahmen des Modellprojekts „Sehen im Alter“ wurde das Sehvermögen von etwa 200 Bewohnerinnen und Bewohnern in verschiedenen Pflegeeinrichtungen unter die Lupe genommen. Die Ergebnisse zeigten in vielerlei Hinsicht deutliche Defizite in der Versorgung. Und genau da setzt das 14-köpfige Team aus Würzburg und Regensburg an.
Neben Alltagshilfen wie Lupen, Lesegeräten oder eben dem Füllstandsanzeiger geht es auch um leicht machbare Verbesserungen in den Pflegeeinrichtungen selbst. „Wir arbeiten an der Barrierefreiheit in vier Bereichen: angepasste Beleuchtung, höhere Kontraste bei der räumlichen Gestaltung, barrierefrei gestaltete schriftliche Informationen und das Zwei-Sinne-Prinzip“, so die Sozialpädagogin. „Das Zwei-Sinne-Prinzip bedeutet, dass alle Informationen über mindestens zwei Sinne wahrnehmbar sein sollten – etwa durch taktile Ergänzungen und die gleichzeitige Bereitstellung von visuellen Informationen oder durch akustische Signale in Verbindung mit Symbolen.“

Praktisch im Alltag: ein Füllstandsanzeiger.
In den Schulungen des Präventionsprogramms erhalten Pflegekräfte kompaktes und praktisches Wissen vermittelt.
Mit anderen Augen sehen
Wie wichtig das sein kann, zeigen interaktive Tests in den angebotenen Seminaren: Auf den Tischen liegen unterschiedliche Brillen, die verschiedene Sehbeeinträchtigungen simulieren, erklären die Augenoptikerin und die Orthoptistin (eine Spezialistin für Störungen des ein- und beidäugigen Sehens) aus Wolfs Team am Standort Regensburg, Christiane Heilein und Barbara Beitelstein. Ein Teilnehmer setzt die Simulationsbrille auf und betritt ein weiß gestrichenes Treppenhaus. Mit weißen Marmortreppenstufen und einem Handlauf aus hellem Holz stellt es selbst bei leichten Sehbeeinträchtigungen eine echte Herausforderung dar. Dann markieren die Mitarbeiterinnen die Treppenstufenkante mit einem kontrastreichen Profil und die Trittsicherheit erhöht sich unmittelbar. „Wir führen die Pflegekräfte mit solchen Brillen durch die Einrichtungen“, erläutert Svea Kollmannsberger, ebenfalls Sozialpädagogin im Team. „In der Regel erkennen sie sofort, wo die Sehhindernisse sind und wie sie häufig leicht zu beheben wären.“

Test mit Simulationsbrille.
Die Rückmeldungen aus den Pflegeeinrichtungen sind durchwegs positiv. Ein Teilnehmer aus dem Caritas Alten- und Pflegeheim St. Michael in Mainburg bei Ingolstadt lobt: „Super, inhaltlich und organisatorisch perfekt durchgeführt.“
Die Kosten tragen die am Präventionsprogramm beteiligten Pflegekassen, sodass das Angebot für die Einrichtungen selbst kostenfrei bleibt. Beteiligt sind die Pflegekassen der AOK Bayern, der Betriebskrankenkassen Bayern, der IKK classic, der KNAPPSCHAFT und der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG). Die Förderung besteht aktuell bis Ende 2027.
Staffelstabübergabe beim Projekt „Gutes Sehen im Alter“. Links die vorherige Leitung Sabine Kampmann, rechts die aktuelle Leitung Klara Wolf.
Sehen verringert Demenzrisiko
Die Bewohnerinnen und Bewohner der Pflegeeinrichtungen profitieren sogar doppelt von dem Präventionsprogramm. „Ähnlich wie bei Schwerhörigkeit ist eine Einschränkung der Sehfähigkeit ein bedeutender Risikofaktor für die Entstehung oder Beschleunigung von Demenz“, mahnt Klara Wolf. Wer sich aufgrund von Sehbeeinträchtigungen aus dem Alltag zurückziehe, steigere sein Risiko, an Demenz zu erkranken. Seit diesem Jahr hat das Präventionsprogramm daher den neuen Schwerpunkt „Sehen und Demenz“ in den Ablauf integriert. Wer besser sieht, bleibt selbständiger, nimmt mehr am Leben teil und beginnt vielleicht auch wieder zu malen – genauso wie die ältere Dame im Seniorenzentrum in Höhenkirchen-Siegertsbrunn.
Team Regensburg (v. l.): Christiane Heilein (Orthoptistin), Barbara Beitelstein (Augenoptikerin), Tobias Lang (Öffentlichkeitsreferent), Svea Kollmannsberger (Sozialpädagogin), Klara Wolf (Sozialpädagogin und Leiterin des Präventionsprogramms „Gutes Sehen in Pflegeeinrichtungen“).

Team Regensburg (v. l.): Christiane Heilein (Orthoptistin), Barbara Beitelstein (Augenoptikerin), Tobias Lang (Öffentlichkeitsreferent), Svea Kollmannsberger (Sozialpädagogin), Klara Wolf (Sozialpädagogin und Leiterin des Präventionsprogramms „Gutes Sehen in Pflegeeinrichtungen“).