Maria Wiesner, eine Frau mit rotem Oberteil, schaut mit Maks, einem blinden Jungen im Toy-Story-Pullover, ein Buch an.

SCHWERPUNKT FRÜHES SEHEN – MITERLEBT


Die Chance, Erfahrungen zu machen

MITERLEBT: Die Frühförderung Sehen begleitet Kinder von der Geburt bis zum Schuleintritt – eine Phase, in der wichtige Weichen für das Leben gestellt werden. Zu Besuch beim blinden Maks und der sehbehinderten Ismini, die lernen sollen, sich in der Welt zurechtzufinden.

Von Martina Häring

Der vierjährige Maks entscheidet gerne selber, was er tut. Maria Wiesner weiß das. „Wollen wir von Bären lesen oder Obstgarten spielen?“, fragt sie ihn. „Von Bären lesen!“, entscheidet Maks gut gelaunt und schlägt das Bilderbuch auf. Es führt ihn durch Schnee und Schlamm, über Wiesen und in eine Höhle, wo der flauschige Bär sich versteckt hat. „Schau dir das mal genau an“, sagt Maria Wiesner und führt seine Hand an die richtige Stelle im Buch. Schauen – das heißt für ihn anfassen, fühlen, hinhören. Denn Maks ist blind und sieht nicht mit den Augen, sondern mit allen anderen Sinnen. Schuld daran ist ein Gehirntumor, an dem er mit eineinhalb Jahren erkrankte. Maks wurde zwar geheilt, der Tumor hinterließ aber dauerhafte Schäden am Sehnerv. Maria Wiesner von der Frühförderung Sehen in Niedernberg arbeitet seit zwei Jahren regelmäßig mit Maks, meist zu Hause bei der Familie. Ab und zu fährt sie wie heute in den Kindergarten, den er zusammen mit seinem Zwillingsbruder besucht.

Maks sortiert bunte Plastikfiguren in gleichgroße Kästchen.

Beim Sortieren der Plastikfiguren geht Maks systematisch vor: Wo steht welches Kästchen? Wie viele Figuren sind schon darin?

Die Welt ertasten

Nach dem Bärenbuch soll Maks kleine Plastikfiguren ertasten und in Kästchen sortieren: Ist es ein Mädchen, ein Junge, eine Giraffe, eine Katze oder ein Elefant? Wo steht welches Kästchen? Wie viele Figuren sind schon darin? Maria Wiesner fordert Maks auf, systematisch zu ertasten, was er vor sich hat. „Beim nächsten Mal wird er das schon viel schneller können“, sagt sie später. Danach muss sie sich etwas Neues überlegen, damit er noch gefordert ist. Ein Ziel der Frühförderung ist es, Maks auf das Erlernen der Brailleschrift vorzubereiten. Weil er sich lieber auf das Hören verlässt und nicht gerne mit Sand und Knete spielt, muss man bei ihm vor allem den Tastsinn fördern, den er auch im Alltag braucht, um selbständig zu werden. Manchmal findet die Förderstunde draußen statt, dann wird der Umgang mit dem Langstock geübt. Ob Hinführung auf die Schule oder Einüben von Alltagskompetenzen: Im Grunde geht es darum, dass Maks möglichst die gleichen Erfahrungen machen kann wie sehende Kinder. Denn nur dann hat er die gleichen Chancen, sich zu entwickeln.

Für Ismini darf es blinken

Nach dem Besuch in Maks‘ Kindergarten geht es für Maria Wiesner weiter zum nächsten Kind: Die kleine Ismini liegt im Wohnzimmer der Familie in ihrem Tagesbett. Bis zum vierten Lebensmonat hat sie sich normal entwickelt, dann fiel den Eltern auf, dass etwas nicht stimmte. Inzwischen ist sie ein Dreivierteljahr alt. Eine Diagnose gibt es noch nicht, die Ärzte vermuten aber eine syndromale Erkrankung, hinter der meist ein seltener Gendefekt steckt. „Wie viel sie über die Augen wahrnimmt, ist schwer zu sagen“, so Maria Wiesner, die Ismini nun seit einigen Wochen regelmäßig besucht. Um Isminis Aufmerksamkeit zu bekommen und ihre Sinne anzuregen, greift sie tief in ihre Trickkiste: Sie legt das Kind zum Strampeln auf eine Rettungsdecke, die sich im abgedunkelten Raum zusammen mit einem blinkenden Ball in eine leuchtende, knisternde Sinneserfahrungslandschaft verwandelt. Um die für das Sehen notwendigen Nervenbahnen im Gehirn entwickeln zu können, brauchen Kinder visuelle Reize. Ist das Sehvermögen eingeschränkt, reichen die normalen Umwelteindrücke dafür nicht aus. Damit das Gehirn sich weiterentwickelt, müssen die Reize an das eingeschränkte Sehvermögen angepasst werden. Da darf es ruhig blinken und leuchten, klingeln und knistern. „Die Kunst besteht darin, es so zu dosieren, dass Ismini angeregt, aber nicht überfrachtet wird“, so Wiesner.

Maria Wiesner fördert die kleine Ismini, die in ihrem Tagesbett liegt, mit visuellen Reizen.
Ismini liegt im Schlafanzug mit einer Leuchtkugel unter einer Rettungsdecke.

Visuelle Reize helfen Ismini dabei, die für das Sehen notwendigen Nervenbahnen im Gehirn zu entwickeln.

Hauptsache, das Gehirn muss arbeiten

Besonders wohl scheint sie sich im „Little Room“ zu fühlen, einem Aufbau aus Holz und Plexiglas, unter dem sie liegen und strampeln kann. Seitlich sind kontrastreiche Bilder angebracht, von der Decke hängen Gegenstände zum Greifen. Der Ort soll ihr Halt und Orientierung geben – und die Möglichkeit, überhaupt einen dreidimensionalen Raum wahrzunehmen. Das funktioniert bei Ismini sichtlich, die im „Little Room“ sofort ruhiger wird. Anschließend gibt es für die Füßchen noch ein Massagekissen zur Körperstimulation. „Wir versuchen, möglichst alle Sinne anzuregen und anzusprechen. Hauptsache ist aber, dass das Gehirn arbeiten muss“, erläutert Wiesner. Obwohl die Frühförderung erst vor einigen Wochen begonnen hat, sind die Erfolge schon deutlich sichtbar. „Ismini ist viel zufriedener, fixiert länger“, erzählt die Mutter. „Ich hätte nie gedacht, dass das so viel bringt.“

„ Wir versuchen, möglichst alle Sinne anzuregen und anzusprechen. Hauptsache ist aber, dass das Gehirn arbeiten muss."
Maria Wiesner, Leiterin Frühförderung Sehen in Niedernberg

Jedes Kind ist anders

Maks und Ismini sind zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Sie zeigen, wie weit die Bandbreite der von der Frühförderung Sehen betreuten Kinder ist. Einheitliche Förderpläne gibt es nicht. Für jedes Kind, ob blind, sehbehindert oder von einer Sehbehinderung bedroht, entwickeln Maria Wiesner und ihre Kolleginnen, zu denen auch Psychologinnen, Ergo- und Physiotherapeutinnen, Logopädinnen und Orthoptistinnen zählen, einen individuellen Förderplan. Manchmal lässt sich dadurch eine Sehbehinderung abwenden. Manche Kinder wiederum sind so schwer krank, dass sie ihr Zuhause nicht verlassen können. „Auch Sterben ist ein Thema, das uns stark fordert und mit dem wir sehr sensibel umgehen müssen“, sagt Wiesner. „Gleichzeitig müssen wir es von den Familien fernhalten, die es nicht betrifft. Das ist nicht immer leicht.“

Etwa ein Drittel der Kinder hat ausschließlich eine Sehbehinderung und wird später ein relativ normales Leben führen können. Ein Drittel hat weitere, leichte Beeinträchtigungen und kann später eventuell einen Beruf lernen. Und ein weiteres Drittel ist schwer betroffen.

Marie Wiesner übt mit einem kleinen Jungen in grau-gelber Jacke den Umgang mit dem Langstock.

Damit sich die Kinder auch außerhalb ihres Zuhauses zurechtfinden, übt Maria Wiesner mit ihnen den Umgang mit dem Langstock.

Manche von ihnen können später in einer Werkstatt arbeiten, andere nicht. Da Maks außer seiner Blindheit keine Einschränkungen hat, wird er nach dem Kindergarten auf die Regelschule gehen. Dann wird Maria Wiesner sich von ihm verabschieden und der mobile sonderpädagogische Dienst übernimmt. Welchen Weg die kleine Ismini einmal einschlagen wird, ist offen. Fest steht aber: Durch den frühen Beginn der Förderung hat sie die besten Chancen auf eine möglichst gute Entwicklung.

Ismini auf dem Arm ihrer Mutter, die sich mit Maria Wiesner unterhält.

Bis zum vierten Lebensmonat hat sich Ismini normal entwickelt, dann fiel ihren Eltern auf, dass etwas nicht stimmte. Hilfe fanden sie beim Blindeninstitut: Seitdem ist Maria Wiesner regelmäßig zu Gast.